Unfall mit zwei Schmieden

Ich möchte heute von einer Begebenheit aus meinem jungen Erwachsenendasein erzählen, die sich so oder ähnlich zugetragen haben mag, oder auch nicht, wer kann es schon wissen! Sollte sie sich so zugetragen haben, dann möchte ich niemandem empfehlen, das zu Hause oder gar woanders zu versuchen.

Wir waren auf einem Musikfestival im Nirgendwo, der Campingplatz befand sich inmitten von Kornfeldern, über die dramatisch der Wind rollte, und die Wolken quollen am Himmel, als gäbe es kein Morgen. Wahrscheinlich war es Vormittag, aber das war aufgrund der Botenstofflage nicht so ganz klar. Auch die Wetterlage war alles andere als eindeutig, selbst die Temperatur ließ sich trotz ausgiebiger Versuche nicht feststellen. Da wir zum eigentlichen Festivalgelände auf dem Hügel ein ganzes Stück laufen mussten, zog ich mir meinen Synthetikpullover an, Sven wählte seinen grünen Pullunder, und Chris das selbst gebatikte T-Shirt. Als professioneller Festivalbesucher nahm ich noch einen Schirm, der mich gegen Sonne und Regen schützen sollte, sowie als Stütze und Erdungspunkt dienen konnte, wenn alles zu anstrengend wurde. So brachen wir auf und wurden Teil der Menge, die euphorisiert und erwartungsvoll zur heiligen Stätte pilgerte.

Auf dem Weg begegneten wir den merkwürdigsten Wesen: freundlichen Gnomen; hyperathletischen Titanen, die alle anderen um mehrere Köpfe überragten; Kinder, die absurde sprechenden Holzmasken trugen; Hundemenschen mit unbekannten Absichten … Wir konnten uns kaum sattgaffen an diesem Panoptikum, das da für uns aufgefahren wurde. Auch zwei Schmiede befanden sich in der Menge, zwei Bären, riesenhaft, mit zotteligem braunen Haar und beeindruckenden Bärten. Lederschürzen. Eindeutig Schmiede.

Als wir nach einem langen und hysterischen Marsch endlich auf dem Hügel angekommen waren, verließ uns plötzlich jegliche Kraft und ein bisschen der Mut. Wir fragten uns, wie wir jemals wieder auf den Campingplatz zurückkommen sollten. Aber jetzt hieß es erst einmal konzentrieren und orientieren, denn hier oben waren Verkaufsstände und jede Menge Menschen. Chris hatten wir schon verloren. Wir schnappten auf, dass irgendjemand etwas von „Ich bin 12 Uhr am Tattoo-Wagen, mein Körper ist mein letzter Versuch!“ stammelte. Und während dieser Satz unangenehm nachhallte, schafften wir es irgendwie durch das Gewusel auf das Gelände zu kommen. Hier war noch jede Menge Platz und wir konnten wieder frei atmen.

Erleichtert begaben wir uns nach vorn. Gerade spielte eine lokale Band, Stilrichtung wahrscheinlich das, was man in den 80ern Jazzpop oder Popjazz genannt hat, aber vielleicht war es auch etwas ganz anderes, es war jedenfalls schlecht. Unsäglich schlecht sogar, alles fiel auseinander, jeder spielte für sich allein, und alle machten einen derartigen Blödsinn mit ihrem Dasein in Anzügen und Sonnenbrillen: es war empörend! Wir schimpften wie die Spatzen über diesen entzündeten Wurmfortsatz der Musikgeschichte, dieses lächerliche Gurkenaufgebot, diese abgrundtiefe usw usw … denn Musikkritik, ja-haa, Musikkritik, die konnten wir!

Während wir inmitten von Familienangehörigen und Freunden der Band so fachkundig wie lautstark über das Geschehen auf der Bühne lästerten, fiel uns ein Zelt ins Auge, in dem Festival-typischer Glitzerkram verkauft wurde. In einem Anflug von Leichtsinn begab sich Sven in das Schmuckzelt, und obwohl ich bis heute nicht weiß, was ihm in der kurzen Zeit seines Aufenthalts widerfuhr, fand dort eine Transformation statt, die ihn bezaubert und verstört wieder heraustreten ließ. Nur für kurze Zeit wohlgemerkt, denn wir waren gerade erst zum Nachbarstand geschlendert, da rief jemand meinen Namen: „Blarghl!“ „Gouaaarg!“

Es waren leider Kommilitonen, mir kaum bekannt, sie hatten leider Sekt und wir mussten leider trinken, da wir nicht in der Lage zu einem noch so erbärmlichen Nein waren. So smalltalkten wir eine halbe bis sechzig Minuten und sagten uns dabei „wir sind professionell, das läuft“. Und obwohl wir echt gut drauf waren und alles souverän hinbekamen, fragten diese komischen Menschen beim Abschied, ob es uns denn gut ginge. Besorgte Blicke und so. In die Augen. Da fiel mir auf, dass wir uns auf einer gigantischen Müllhalde befanden, überall Plastikbecher und ausgeblichene Tüten, und das lag ganz bestimmt an der Anwesenheit dieser neugierigen, aufdringlichen …, puh, sehr unangenehm gerade. Geht es uns gut? Geht es uns gut? Ob es uns gut geht. Ob es uns gut geht. Und dieses blöde Augengegucke.

Göttliche Fügung schickte uns den Chris vorbei. Ihm ging es jedenfalls nicht sonderlich gut, an seinem Oberschenkel hing wie ein festgebissener tropischer Frosch ein winziger Campingstuhl. Den entfernten wir in einer komplizierten Operation, und danach waren die lästigen Kommilitonen auf einmal verschwunden. Seltsam, sie waren doch gerade noch so anhänglich gewesen. Immerhin war auch der ganze Müll wieder weg – und plötzlich auch Chris.

Offenbar waren wir der Realität nur noch lästig. Verschiedene Szenen reihten sich unverbunden aneinander, und wendeten wir unseren Blick zu schnell, so ratterte das Bild mit Verzögerung durchs Sichtfeld, fächerte sich auf wie ein Daumenkino und dann wieder ein. Redete ich oder hatte ich das gerade nur gedacht? Womit musste der nächste Satz anfangen, wo doch seit dem letzten so viele Gedanken passiert waren, ein ungemein verästelter Baum von Gedanken, wo war ich doch gerade?

Das Universum dürfte jetzt gern etwas langsamer machen, fanden wir. Es war schon anstrengend genug, sich selbst zusammenzuhalten und bis zur nächsten Sekunde durchzubringen. Während alle Dinge so unaufhaltsam auf einen einstürmten und -stürzten – wohin man schaute, nirgends gab es Ruhe, noch der kleinste Stein wollte einen mit Reizen überfluten! Und selbst die Bäume, sonst die besten Verbündeten, schnitten grimmige Fratzen mit ihren Rübezahlgesichtern.

Deutschland, Hochsommer, früher Nachmittag, die Sonne brennt, der Pullover hält. Wir blickten nach vorn auf eine beunruhigende Szenerie: Jemand hatte einen verrußten Schweineschädel über der Bühne aufgehängt, und aus den Scheinwerfern floss materialisierte Dunkelheit. Sven signalisierte mir, dass er nicht einverstanden sei mit dem, was da passierte. Ich nickte, während ich mich an meinem Schirm festhielt. Ein Wasserfall unklarer Gefühle schwappte über mich, dann war mir auch schon wieder alles egal. Wir beschlossen uns einfach weiter nach vorn zu wagen, denn was blieb uns denn übrig? Und wir waren ja professionell.

Noch immer war viel Platz auf der Konzertwiese, und bald erblickten wir nahebei zwei alte Bekannte: Da waren unsere Schmiede wieder, sie hatten Bier gekauft und gaben sich Schmiede-High-Fives, knufften und pufften sich, lachten und verkörperten die unkomplizierteste Mittelalter-Live-Action-Roleplay-Schmiedigkeit, die man sich vorstellen konnte. Neugierig arbeiteten wir uns weiter nach vorn und versuchten die beiden nicht aus den Augen zu verlieren. Als würde die Zeit um uns herum angehalten, verlangsamte sich jede Bewegung im Publikum, der Sound von der Bühne blieb förmlich stecken und bildete eine unscharfe verzerrte Wolke. Die zwei Schmiede pumpten sich auf und wurden überlebensgroß, um sodann wie im Showdown eines Gladiatoren- oder Nashornfilms aufeinander zuzulaufen. In Zeitlupe zogen sie ihre Bahn, die Bierflaschen wie Banner hochhaltend, krachten ineinander und fielen rückwärts ins Gras. Bevor wir uns ernsthafte Sorgen machen konnten, stand der Erste wieder auf, Ho-ho-ho, und klopfte sich Wams und Hose ab. Schluck Bier. Dann beugte er sich über Schmied Zwo, der immer noch am Boden lag und sich nicht rührte. Blaue Lippen im kreidebleichen Gesicht! Schmied Eins packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn, da rollte unterm Hinterkopf die Bierflasche hervor, auf die er offensichtlich gefallen war. Und anscheinend war er tot oder zumindest schwer verletzt. Einen Arzt! Oder zumindest einen Ersthelfer! Niemand sonst hatte etwas bemerkt, alles außerhalb unserer Blase schien einfach weiterzuwuseln.

Moment, wir waren auf bizarren Psychedelika, möglicherweise bildeten wir uns das ja auch alles nur ein! Erstmal Reality Check machen! Ich blickte zu Sven rüber, er sah mich an – kein Zweifel, wir hatten beide dasselbe gesehen, kein Irrtum möglich: Wir hatten einem entsetzlichen Unfall beigewohnt, total drauf und entsprechend verwundbar, und wir waren absolut nicht in der Lage hier Hilfe zu leisten. Aber wir standen am nächsten dran, und schon fielen erste fragende Blicke auf uns, die Leute begannen zu tuscheln: warum tun die nichts, die stehen einfach nur dabei, das ist ja wohl das letzte! Wir mussten weg, und zwar schnell und unauffällig! Am Ende wären wir noch schuld am Tod des Schmieds. Der Schmied, dem nicht rechtzeitig geholfen wurde, weil wir durch unsere bloße Anwesenheit andere vom Helfen abgehalten hatten. Es war gar nicht so einfach sich trotz der heranrollenden Panik langsam vom Unfallort zu entfernen.

Lots Frau wurde zur Salzsäule, weil sie einen Blick zurück auf die Stadt warf, die sie soeben verlassen hatte und die gerade eingeäschert wurde. Nicht auszudenken, wie schlecht es uns ergangen wäre, hätten wir uns auf unserer Flucht nicht noch einmal umgedreht! Denn auf einmal stand der zweite Schmied einfach auf und zeigte – Ha-Ha! – wie Nelson auf seinen Kompagnon, der ihn sich jetzt nach Wrestler-Art über die Schulter warf. Die Erleichterung, die wir empfanden, ist nicht zu beschreiben. Eine unglaubliche positive Kraft schob uns vorwärts, belebte alles um uns herum, und wir spürten, dass wir nun auf dem richtigen Weg unterwegs waren. Wir beschlossen als nächstes Abenteuer das nahe Zelt zu erkunden, in dem bunte Tücher verkauft wurden, die in aufregender Synchronizität im Wind wogten. In diesem Moment fing es an heftig zu regnen.

Professionell spannte ich meinen Schirm auf, und Sven begab sich rückwärts in das Tücherzelt, wo er in der ausgehängten Ware verschwand wie ein menschenförmiger Krillschwarm in den Barten des Batikwals. Nur noch seine Füße waren sichtbar. Nachdem ich eine halbe Unendlichkeit lang auf seine pulsierenden Trekkingsandalen gestarrt hatte, wurde mir auf einmal klar, welch wichtiges Zeichen mir hiermit gesendet werden sollte: ich war zur völlig falschen Jahreszeit in einem Pullover aus Kunststoff unterwegs. Sobald ich das schreckliche Ding von meinem schweißdurchtränkten T-Shirt getrennt hatte, ging es mir besser. Das Leben war eigentlich richtig gut. Und da wurde auch schon der Sven wieder von den Tüchern ausgespuckt, es konnte weitergehen!

Mit glänzenden Augen und roten Bäckchen lustwandelten wir über die Wiese. Die Bäume waren uns wieder wohlgesonnen und im Himmel über der Bühne türmten sich die Wolken wie barocke Fürsten. Die Musik spielte auf einmal eine Rolle und zog in breiten Bändern durch unsere Körper, bescherte Kraftduschen und malte filigrane Netze, auf denen die Töne nach geheimnisvollen Regeln entlang liefen. Irgendwann beendete die Band in feierlicher Pracht ihr Stück (wir riefen uns durch den Sturm zu „sie bringen alles nach Haus, sie bringen alles nach Haus!“). Dann Stille. Und dann brandete ein Applaus los, ein ganz besonderer Applaus, ein Applaus, der gewiss nie zuvor und nie danach wieder zustande kam. Dieser Applaus hob nämlich das gesamte Publikum zwei Meter in die Luft. Und als er irgendwann nachließ, sanken alle sanft zurück auf die Erde.

Genau genommen ging es jetzt erst richtig los und alles wurde völlig verrückt, haltlos und nicht mehr sprachlich vermittelbar. Aber das machte uns nichts, denn wir waren bereits durchs Fegefeuer gegangen und heil herausgekommen. Und damit waren wir für den Rest der Reise unverwundbar.

Als wir nach drei Tagen wieder nach Hause zurückkehrten, waren dort drei Jahre vergangen.

 

 

 



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